Hermann Josef Schmidt

Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, Kindheit 1854-1858, Teil 1/2 (1990, 2. Aufl. 1991, 567 S.), Kindheit 1854-1858 Teil 3 (1990, 2. Aufl. 1991, 568-1120 = 552 S.), II. Jugend 1. Teilband 1858-1861 (1993, 636 S.), 2. Teilband 1862-1864 (1994, 766 S.), Alibri (vormals IBDK) Verlag, Aschaffenburg, Gesamtpreis: 100 EUR

Rezension von Helmut Walther (Nürnberg)
publiziert in Aufklärung und Kritik 1/2002 S. 200 ff.

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Dieses Mammutunternehmen des Mitherausgebers von A&K, Hermann Josef Schmidt, Professor der Philosophie an der Universität Dortmund und Initiator der Dortmunder Nietzsche-Kolloquien seit 1991, läßt sich zu Recht als dessen opus magnum bezeichnen. In vier Bänden mit über 2.500 Seiten untersucht er akribisch Kindheit und Jugend Nietzsches; im Vordergrund seines Spurenlesens stehen dabei die schriftlichen Dokumente des Kindes und Jugendlichen, die von früh an von Mutter und Schwester gesammelt wurden und so in überraschender Fülle vorhanden sind. Dabei stützt er sich neben eigenen Nachforschungen im Weimarer Archiv vor allem auf die HKGW = Beck’sche Ausgabe Werke (BAW 1-5, Jugendschriften von 1854-1869), Herausgeber H. J. Mette, wie auf die HKGA Briefe der Schüler- und Bonner Studentenzeit 1850-1865, 1. Band, Herausgeber W. Hoppe und K. Schlechta, womit in den 30iger Jahren erstmals auch die Schriften und Briefe aus der Jugend Nietzsches historisch-kritisch veröffentlicht wurden.

Paradoxerweise nahm sich keiner der renommierten Verlage dieser seit vielen Jahren wohl wichtigsten Nietzsche-Veröffentlichung an, so daß der Autor zugleich als eigener Lektor und Layouter tätig werden mußte – eine immense Leistung. Und dennoch, ohne dies als Kritik verstanden wissen zu wollen: Eine sorgfältig betreute Neuausgabe würde vom Formalen her die Lektüre wesentlich erleichtern helfen. Da unter diesen Umständen sowohl das Anliegen Schmidts wie seine Thesen in der Zunft der Nietzsche-Forscher von Ausnahmen abgesehen weitgehend unbeachtet blieben, schickte er seine Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches hinterher, die in Aufklärung und Kritik, Heft 2/2000, S. 182 ff. bereits rezensiert wurde, auf welche Rezension deshalb, um Wiederholungen zu vermeiden, ausdrücklich Bezug genommen wird.

Angesichts des Umfangs dieses Spurenlesens beim jungen Nietzsche kann hier naturgemäß nicht auf Einzelheiten eingegangen werden; vielmehr sollen (a) die Anliegen Schmidts, (b) seine Arbeitsweise und (c) einige Hauptthesen ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgestellt werden.

a) Das sich durch das ganze Werk hinziehende Grundanliegen Schmidts besteht darin,

– den Leser damit überhaupt erst vertraut zu machen, daß es ein solch reiches Jugendwerk Nietzsches im Nachlaß gibt, das in den Werkausgaben wie in den Biographien – von wenigen Ausnahmen abgesehen – meist außen vor blieb.

– zu zeigen, daß viele für den späteren Philosophen wichtige Gedankengänge sich bereits in diesem Jugendwerk zumindest keimhaft finden, folglich ohne die Kenntnisnahme dieser frühen Gedankenknospen wohl kaum recht interpretiert werden können. Das wiederholt ausgesprochene Hauptanliegen Schmidts ist es daher, für eine adäquatere Nietzsche-Interpretation, die von Nietzsche selbst ausgeht – und nicht von extern herangetragenen Interpretationsgesichtspunkten – erste Grundmauern aufzurichten.

– aufzuweisen, daß Nietzsches Gedankengänge nicht "von ungefähr" daherkommen, sondern daß es dafür biographische Wurzeln gibt, die sichtbar gemacht werden können und sich in diesen Jugendwerken spiegeln.

– Unversehens entfalten die Gedankengänge Schmidts eigene philosophische Wirksamkeit, wenn er nachzuweisen sucht, wie durch die letzten zweitausend Jahre hindurch bis heute bestimmte abendländisch-christliche Beeinflussungen von Kindesbeinen an – was für Nietzsche als Pfarrhauskind in besonderem Maße gilt – Denkrichtung und Lebenshaltung im Okzident so in eine idealistische und lebensfeindliche Richtung prägen, daß selbst ein philosophisches Genie im denklangen Kampf dagegen diese Prägungen nicht zu überwinden wußte, so daß es Nietzsche trotz allen Bohrens in die eigenen Tiefen nicht gelang, eine lebenszugewandt glückliche und erfüllte Existenz führen zu können. Die Bedeutsamkeit Nietzsches auch heute noch liegt mithin vor allem in diesem Tiefenbohren und Freilegen der Bedingungen der individuellen Existenz, denn jene die Individuen konditionierenden "Ur-Sachen", sei es im religiösen, sei es im metaphysisch-philosophischen "Denken", sind heute in der westlichen Gesellschaft und deren Kultur so wirksam wie nur je, wie der Autor wiederholt beredt beklagt.

b) In der Arbeitsweise fällt zunächst eine parallele Dreistufigkeit ins Auge, die mit ihren sich vertikal umschließenden Ebenen Nietzsche absconditus Breite und Tiefe ebenso wie philosophische Relevanz gerade auch für den modernen Leser gewährleistet:

– Zunächst werden in dreifachem Gang ("Spurenlesen", "Metaspurenlesen", "Meta-Metaspurenlesen") die Fakten aufgeschlossen: Einer ersten inhaltlichen Untersuchung für den jeweiligen Zeitraum besonders bedeutsamer Texte schließt sich die Schilderung des persönlichen Kontextes zu dieser Zeit an, um aus dem Vergleich der realen Erlebnisse Nietzsches mit seinem verarbeitenden Schreiben Rückschlüsse zu ziehen; in einem dritten Schritt werden sodann allgemeingültige Gesichtspunkte aus der geschichtlichen Situation selbst wie aus den heute bekannten wissenschaftlichen, insbesondere psychologischen Erkenntnissen geschildert, die möglicherweise in den Texten als wirksam identifiziert werden können.

– Auf jeder dieser Ebenen werden damit verbunden entsprechende Deutungshypothesen aufgestellt: Der formalen und inhaltlichen Untersuchung der konkreten Texte folgt der Versuch, die jeweilige persönliche Lebenssituation in Familie und Schule und den inneren Gehalt der Texte aufeinander zu beziehen; sodann werden moderne Entwicklungshypothesen der Psychologie allgemein sowie insbesondere der Sexual- und Religionspsychologie herangezogen, um die Ergebnisse der ersten beiden Spurenlesegänge aus der allgemein-menschlichen Sicht zu beleuchten, bzw. vor allem die Besonderheiten der Entwicklungsbedingungen Nietzsches und deren Auswirkungen auf den jungen Nietzsche zu schildern.

Der Leser erfährt dadurch nicht nur sehr viele Einzelheiten aus der Jugend Nietzsches, vor allem auch aus seiner Schülerzeit in Naumburg und Pforta (und damit naturgemäß auch über das damalige Schülerdasein ganz allgemein), vielmehr – und das ist sicher einer der vielen Vorzüge dieser Bücher – wird der Leser dadurch über die bloße Rezeption der Nietzscheschen Entwicklung hinaus zur mitgehenden Reflexion und unversehens zur Selbstreflexion gebracht: den eigenen Standort in der eigenen Zeit kritisch zu sehen.

c) Zuletzt sollen einige der – teilweise neuen und heftig umstrittenen – Hauptthesen Schmidts vorgestellt werden:

– Wohl unter dem Einfluß des Freudschen Denkens gilt das besondere Augenmerk der sexuellen Entwicklung Nietzsches, was angesichts der besonderen familiären Umstände (früher Tod des Vaters, einziger "Mann" unter fünf Frauen, spätere Unerfülltheit von weiblichen Beziehungen) sicher legitim ist. Neben dem Wahrscheinlichhalten des Inzests mit der eigenen jüngeren Schwester diskutiert Schmidt gleichzeitig die homoerotische Hypothese (insbesondere auch im Hinblick auf die Internatsituation), auf der mancher Autor heute erfolgreich herumreitet. Ob die Beweislage für beide Hypothesen, die sich in ihrer konsequenten Anwendung gegenseitig wohl ausschließen würden, wirklich tragfähig ist, scheint nach Meinung des Rezensenten allerdings fraglich zu sein; es sind hauptsächlich implizite Vermutungen und Schlüsse von allgemeinen sexualpsychologischen Hypothesen auf konkrete Lebensumstände Nietzsches, auf die sich Schmidt dabei stützt – und die er dann aus dieser vorgewählten Perspektive heraus in den Texten des Jungen wiederfindet, dabei den Interpretationsrahmen der Texte in Freudscher Deutungsmanier manchmal wohl überstrapazierend; so etwa im wichtigen Jugendgedicht Zwei Lerchen, wo deren Streben zur Sonne geschildert wird. Während jedoch die eine Lerche geblendet ihren Aufflug abbricht, läßt sich die andere in ihrem "mutigen Drange" nicht abhalten: "Sie blickt in die strahlende Sonne / Sie schaut sie an ohne Klag / In himmlischer Freude und Wonne, / Bis endlich ihr Auge brach." Obwohl nun die Deutung auf Ebene 1 und 2 bereits überreiches und nachvollziehbares Material erbringt, dreht Schmidt auf Ebene 3 nun solange am Begriff "Sonne" und am "Drang" wie "brechenden Auge" der Lerche herum, bis er eine durch Masturbation bzw. (homo-)erotische Beziehung ausgelöste sexuelle Auslöschung des Bewußtseins herausbekommt. (Dieses Gedicht wie weitere bedeutsame Jugendwerke Nietzsches befinden sich im Volltext auf der Nietzsche-Website des Rezensenten im Internet unter www.f-nietzsche.de.)

– Die Selbstmordhypothese: Aufsehen erregte Schmidt mit der These, Nietzsche habe offenbar im Alter von 14 Jahren einen Selbstmordversuch unternommen, in dem er sich beim Schwimmen in der Saale mehr volens als nolens einem kräftigen Strudel überlassen habe, aus dem er nur mit fremder Hilfe gerettet werden konnte (die Schwester schildert dieses "Badeunglück" in ihrer ersten Biografie, bei Nietzsche selbst findet sich dazu keinerlei expliziter Hinweis). Schmidt stützt sich dabei einesteils auf die Interpretation von Gedichttexten, in denen von "Tod" und "Verzweiflung" die Rede ist, andererseits auf die isolierte Situation Nietzsches innerhalb der Familie wie auch auf allgemeine psychologische Erwägungen und macht so sein dreifaches Spurenlesen fruchtbar. Allerdings bleibt es auch hier – wie bei den sexualpsychologischen Vermutungen – beim Hypothetischen, was der Autor an mancher Stelle auch freimütig einräumt; andererseits scheinen ihm diese seine Hypothesen zwischendurch in dem Maße die "plausibelsten" zu sein, daß er bisweilen von ihnen wie von objektiv erwiesenen Tatsachen spricht.

– Die Entdeckung Ortlepps: Bezugnehmend auf eine einzelne Briefstelle Nietzsches wie auf einen "Album-Fund" im Weimarer Archiv stellt Schmidt erstmals seine sog. "Ortlepp-Hypothese" auf, die er auch im A&K-Sonderheft Nr. 4/2000 zu Nietzsche (S. 69 ff.) umreißt:

In einem "Poesie-Album" Nietzsches finden sich verschiedene Einträge, darunter auf den Seiten 61-66 tatsächlich recht verfängliche Texte, deren Autorenschaft umstritten ist und hinter denen Schmidt den gescheiterten Dichter Ernst Ortlepp vermutet, der offenbar an seinem Lebensabend mit dem jungen Nietzsche eine päderastische Verbindung gepflegt und diesen insbesondere auch in seiner geistigen Entwicklung in hohem Maße beeinflußt habe.

Da der mit der Herausgabe der Jugendschriften befaßte Hans Gerald Hödl in Band XXVII der Nietzsche-Studien, dem Hauptorgan der Nietzsche-Forschung, inzwischen unter dem Titel "Der alte Ortlepp war es übrigens nicht" in einer "Philologie für Spurenleser" die Thesen Schmidts in einer nachvollziehbar oberflächlichen Art und Weise kritisierte, hat letzterer eigens dazu eine Metakritik vorgelegt unter dem Titel "Der alte Ortlepp war’s wohl doch" (Alibri Verlag, Aschaffenburg 2001, 440 S.), in der er seine Hypothesen unter Vorlage reichen Materials plausibel zu machen sucht. Nicht nur werden die Dokumente, teils sogar als Faksimile dem Leser zur eigenen Beurteilung des Sachverhalts zugänglich gemacht; von hohem Interesse sind vielmehr auch die Informationen zu Ernst Ortlepp (1800-1864) selbst und dessen schließlich gescheiterter Dichterexistenz, die in einem kleinen Wassergraben nahe Schulpforta auf ungeklärte Weise endete, worüber der Pfortazögling Nietzsche betroffen berichtet. Diese Überlegungen und die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen müssen bis zum endgültigen Erweis der Herkunft dieser Einträge wohl offen bleiben.

So, wie die dreibändige Lebensbeschreibung von Curt Paul Janz als Standardbiographie des erwachsenen Nietzsche gelten kann, ebenso grundlegend und unverzichtbar sind die vier Bände von Hermann Josef Schmidt für die Kindheit und Jugend Nietzsches; die dahinterstehenden jahrzehntelangen akribischen Forschungsbemühungen zu Nietzsche und den ihn umgebenden Personenkreis, aber auch hinsichtlich der örtlichen und zeitlichen Umstände erlauben Schmidt eine souveräne wie scharfsinnige und an Materialreichtum unüberbietbare Schilderung vor allem der inneren Entwicklung des jungen Nietzsche. Dies geschieht dankenswerter Weise keinesfalls in einem abgehobenen Gelehrtenjargon, sondern in einer jedem Leser zugänglichen Sprache, die sich auch den polemischen Unterton – hierin der Vorgehensweise des reifen Nietzsche folgend – gegen manche Fehlinterpretation, aber auch gegen heutige Mißstände in Philosophie und Lehre nicht verwehrt. So geht der Wert dieses Werkes über das Aufdecken biographischer Fakten in mehrfacher Hinsicht weit hinaus: Die Betonung der genetischen Perspektive im vertikal und horizontal sich erweiternden dreifachen Umgang vollzieht bewußt den Nietzscheschen Polyperspektivismus nach und bezieht den heutigen Leser im Aufweis der Herkunft des modernen Individuums aus dem (Un-)Geist des Christentums mit ein: Ist doch nach Auffassung Schmidts genau dies der lebenslange Kampf Nietzsches, der sich bereits in der frühen Jugend in der Hinwendung zu Griechentum und Natur zeigt, den er aber, bedingt durch die individuelle Pfarrhausabstammung und die (bis heute allgemeingültige) christliche Tradition, nicht gewinnen konnte. Zwar durchschaute Nietzsche im steten Tieferbohren individuell für sich – und damit gleichzeitig zu einem der Stammväter der Psychologie werdend auch noch für uns – diese Bedingungen, zerbrach jedoch an der Durchtränkung seiner eigenen Genese (vom Über-Vorbild des Vaters bis zur "Einübung des Christentums" in Pforta), als er sich, wie etwa zuletzt im Antichrist, gewaltsam davon zu befreien suchte.

Unsere deutsche Diskussion und Praxis um Kruzifixe und angeblich "christliche Werte", ja die paradoxe Vereinnahmung Nietzsches seitens der Theologie in der hundertjährigen Rezeptionsgeschichte zeigt es allzu deutlich: Das Nietzschesche Denken ist bislang weder eingeholt noch entsprechend wirksam geworden – und so beharrt Schmidt zu Recht auf der Notwendigkeit einer vorurteilslosen Nietzsche-Interpretation, da sich an dessen Entwicklungsgang so exemplarisch wie tragisch diese Verfangenheit in so bedenklichen Existenzvoraussetzungen aufweist. Soviel läßt sich jedem Leser, insbesondere natürlich dem an Nietzsche interessierten versprechen, der die Lektüre dieser vier Bände "Nietzsche absconditus" auf sich nimmt: Er wird nicht nur umfassend über Lebensumstände und Texte des frühen Nietzsche informiert, sondern er durchläuft im Umschreiten der verschiedenen genetischen Ebenen und der Entdeckung von deren Wechselwirkung zugleich ein Praktikum in angewandtem Polyperspektivdenken, das ihm auch fürderhin von Nutzen sein wird.