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Ursula Schmidt-Losch
"ein verfehltes Leben"? Nietzsches Mutter Franziska
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2001, 124 S., ISBN 3-932710-45-2. Preis: 10 EUR

Rezension
von Helmut Walther (Nürnberg)

Die Autorin ist die Ehefrau des bekannten Nietzsche-Forschers, Prof. Dr. H.-J. Schmidt, in dessen Buchreihe "Aufkärungen zu Nietzsche" als Band 3 das vorliegende Buch erschienen ist. Es gliedert sich in drei Teile:

– Die ersten 40 Seiten geben einen Überblick über den Lebenslauf der Mutter Nietzsches und sind entstanden als erweiterte Fassung eines Vortrags der Autorin zum 100. Todestag von Franziska Nietzsche (20.4.1897) in Naumburg.

– Die folgenden etwa 60 Seiten bieten eine Dokumentation wichtiger schriftlicher Belege, unter denen die Aufzeichnung von Franziska Nietzsche "Mein Leben" (1895) herausragt.

– Der letzte Teil "Anstatt eines Nachworts" befaßt sich auf etwa 15 Seiten mit der "religiösen Sprache im Hause Nietzsche"; dabei handelt es sich ebenfalls um ein – in diesem Falle allerdings gekürztes – Referat, das von der Autorin zum 100. Todestag Nietzsches am 25.8.2000 auf dem Naumburger Nietzschekongreß gehalten wurde.

Der Lebenslauf schildert zunächst die Problematik einer Biografie Franziskas sowohl aus der Materialsituation heraus wie auch im Hinblick auf die Schwester Nietzsches, Elisabeth Förster-Nietzsche, die bekanntlich alle erreichbaren schriftlichen Zeugnisse in ihren Besitz gebracht und zu tendenziöser Darstellung benutzt hatte; deren Vorwurf gegenüber ihrer eigenen Mutter bildet denn auch die Titelfrage: "ein verfehltes Leben"? Kindheit und Jugend Franziskas in Pobles (nahe Röcken), die sieben Jahre in Röcken nach ihrer Heirat (1843), der Umzug nach Naumburg nach dem Tod Ludwig Nietzsches (Juli 1849) und die dortigen verschiedenen Stationen bilden das Grundgerüst der Darstellung, in der dieser Vorwurf der Tochter überprüft werden soll; dabei lehnt sich die Autorin in mancher Hinsicht an die Ergebnisse von H. J. Schmidt in "Nietzsche absconditus" an – so finden sich unter anderem eigentlich in diesem Kontext eher nicht zu erwartende Hinweise auf dessen Vermutungen zur angeblichen Beeinflussung Nietzsches durch Ortlepp (s. A&K, Nietzsche-Sonderheft 4/2000, S. 69 ff.) und auch auf die noch gewagteren Spekulationen über einen angeblichen Selbstmordversuch Nietzsches im Alter von 14 Jahren.

Die anschließende Dokumentation bringt neben "Sentenzen" von Franziska und einem längeren Brief Elisabeths vor allem das oben schon angesprochene "Mein Leben" von Franziskas Hand; dieser viele Hintergrundinformationen bietende autobiografische Bericht erstreckt sich leider nur auf die Kindheits- und Jugendjahre bis hin zur Verheiratung mit Ludwig Nietzsche und bricht mit der Geburt Friedrich Nietzsches (15.10.1844) ab. Weniger bedeutsam sind wohl die "Erinnerungen aus meinem Leben" ihres jüngsten Bruders Oskar Oehler (geb. 1839) von 1892, der folglich die ältere Schwester (geb. 1826), übrigens genau das mittlere von 11 Kindern, in der eigenen Kindheit kaum bewußt erlebte. So erfahren wir in diesen Erinnerungen zwar manche Einzelheit über die Eltern von Franziska und Art, Umgang und Örtlichkeiten des Elternhauses, aber fast nichts über sie selbst.

Der abschließende Teil – "der liebe Gott wird"... Religiöse Sprache im Hause Nietzsche 1844-1849 und ihre früh(st)en Folgen – steht in seinem Anliegen in direktem Zusammenhang mit demjenigen von H. J. Schmidt, insofern hier der sprachlichen Konditionierung bzw. "Traumatisierung" Nietzsches unter Einschränkung auf die Begriffe "Gott" und "der Herr" nachgegangen werden soll, zu deren Bewältigung Nietzsche seine Philosophie als "genialen Versuch" entwickelt habe. Insbesondere wird ganz parallel zu "Nietzsche absconditus Kindheit" der schreckliche Tod des Vaters, dessen zunächst im Pfarrhaus doch für möglich gehaltene Heilung offenbar von "Gott" unterlassen wurde, als "basaler" Ausgangspunkt für Nietzsches Philosophie bis 1889 gesehen.

Auch dieses Nachwort macht es deutlich: Selbst wenn man sich bewußt der Mutter Franziska Nietzsche zuwenden möchte, so hängt alle Eigentlichkeit des Schreibens über sie doch von der Bedeutung des Sohnes und der Bedeutung für diesen Sohn ab. Das Buch löst so seinen Anspruch ein, "Aufklärungen" über diesen mütterlichen Hintergrund der Entwicklung Nietzsches und der Rolle der Mutter in seinem Leben zu bieten, die insbesondere in ihrer Sorge für den Erkrankten von 1889 bis zu ihrem Tod 1897 trotz manch vorherigen Zerwürfnisses aufopfernde Beharrlichkeit und Größe zeigt (womit sich denn wohl auch die Titelfrage beantwortet). Wer sich eingehender für das Werden der Persönlichkeit Nietzsches interessiert, die bekanntlich unauflöslich mit seinem Werk verknüpft ist, sollte sich die so erstmals in diesem Buch zusammengestellten Materialien über und von seiner Mutter Franziska nicht entgehen lassen.